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Der Zerfall metastabiler Phasen
(Keimbildung & Wachstum)

Wird eine homogene Phase $\alpha$ infolge von Druck- oder Temperaturänderung aus ihrem Gleichgewicht gebracht, entstehen (metastabile) Keime der neuen Phase $\beta$ zufällig in Raum und Zeit, über einen stochastischen Keimbildungs- und Wachstumsprozeß. Dieser thermisch aktivierte Prozeß wird üblicherweise auf der Grundlage einer Fokker-Planck Gleichung beschrieben ((Binder und Stauffer(1976)))

 
 \begin{displaymath}
\frac{\partial \bar{n}_l(t)}{\partial t} - \frac{\partial J_...
 ... \frac{\partial}{\partial l}
 \frac{\bar{n}_l(t)}{n_l} \bigr] ,\end{displaymath} (25)

wobei Rl die kinetische Reaktionsrate und $\bar{n}_l(t)$ die zeitabhängige Konzentration von $\beta$-Keimen bestehend aus l Teilchen ist. Weiterhin ist

\begin{displaymath}
n_l=n_1 \, \exp\bigl[ -\frac{F_l}{k_BT} \bigr],\end{displaymath} (26)

die Gleichgewichtsverteilung der entstehenden Keime, bestehend aus l Teilchen, mit der freien Energie Fl.

Gleichung (25) hat die Struktur einer Kontinuitätsgleichung im Konfigurationsraum und kann näherungsweise gelöst werden, falls die Änderung der freien Energie bei der Bildung sphärischer Keime der Größe l im stationären Fall bekannt ist. Der Gesamtstrom von Tröpfchen Jl ist definiert als die Differenz zwischen der Rate, mit der sich Tröpfchen bestehend aus l Teilchen in Tröpfchen bestehend aus l+1 Teilchen umwandeln, und der Rate des umgekehrten Vorganges. Er kann entsprechend dem allgemeinen Bild stochastischer Evolutionsgleichungen in zwei Anteile zerlegt werden, in einen Diffusions- und einen Driftstrom ((Haken(1978)))

\begin{displaymath}
J_{Diffusion} = - R_l \frac{\partial \bar{n}_l}{\partial l},...
 ...- \frac{R_l \bar{n}_l}{k_B T} \frac{\partial F_l}{\partial l}. \end{displaymath} (27)

Im stationären Fall sind bezüglich der Keimgröße l drei verschiedene Längenskalen unterscheidbar ((Trinkaus und Yoo(1987))):

(i)
Gleichgewichtsgebiet: Der Gesamtteilchenstrom Jl ist klein gegen die (gegeneinander gerichteten) Diffusions- und Driftströme, die Konzentration von l-Tröpfchen ist näherungsweise identisch mit der Gleichgewichtsverteilung, $\bar{n}_l \simeq n_l$.
(ii)
Fluktuationsgebiet: Der Diffusionsstrom dominiert über den Driftstrom, dieser ändert sein Vorzeichen und wird positiv, die Konzentration von l-Tröpfchen wird klein gegen die Gleichgewichtsverteilung, $\bar{n}_l < n_l$.
(iii)
Wachstumsgebiet: Der Driftstrom dominiert über den Diffusionsstrom um viele Größenordnungen, die Konzentration von l-Tröpfchen wird deutlicher kleiner als die Gleichgewichtsverteilung, $\bar{n}_l \ll n_l$.

Der entscheidende Ansatzpunkt zur Vereinfachung von Gleichung (25) bietet sich nun mit dieser Diskussion der verschiedenen Längenskalen an: Ist man nur an dem Verhalten des Systems oberhalb der sogenannten mesoskopischen Längenskala interessiert (3 - 4 Größenordnungen oberhalb der Dimension der atomaren Bausteine, typischerweise einige $\mu m$), so kann man in guter Näherung die stochastische Fokker-Planck-Gleichung in eine deterministische Beschreibung überführen. Auf diese Weise folgt die Grundgleichung des klassischen Tröpfchenmodells von Keimbildung und Wachstum (siehe z.B. Übersicht in (Christian(1975)))

 
 \begin{displaymath}
\frac{\partial n(r,t)}{\partial t}
+ \frac{\partial}{\partial r} \bigl[ Y(r,t) n(r,t) \bigr] = 0 \quad .\end{displaymath} (28)

Alle zufälligen Eigenschaften des metastabilen Zerfallsprozesses sind ausschließlich nur noch in dem Keimbildungsquellterm enthalten, der über die Randbedingungen für die Verteilungsfunktion der Tröpfchen n(r,t) bei r=0 in die Gleichung (28) eingeht,

\begin{displaymath}
I^V(t) = Y(0,t) \, n(0,t) \quad .\end{displaymath} (29)

Das Ersetzen von Gleichung (25) durch (28) liefert das klassische Modell von Keimbildung und Wachstum. Bei Vernachlässigung von transienten Effekten der Keimbildung bzw. einer endlichen Keimgröße wird die zeitliche Entwicklung der zufällig im Volumen entstehenden Keime (Keimbildungsrate IV) vollständig durch das deterministische Wachstumsgesetz Y bestimmt. Der Transformationsgrad x3D folgt aus der radialen Verteilungsfunktion n(r,t) gemäß ((Riedel und Karato(1996b)))

 
 \begin{displaymath}
x_{3D}(t) = 1 - \exp(-\int\limits_0^\infty {4\pi\over 3} r^3 n(r,t) dr)\end{displaymath} (30)

und ergibt für konstante Y, IV die bekannte Avrami-Beziehung ((Avrami(1939); Avrami(1940); Avrami(1941); Johnson und Mehl(1939)))

 
 \begin{displaymath}
x_{3D}(t) = 1 - \exp(-{\pi\over 3}I^V Y^3 t^4) \quad .\end{displaymath} (31)

Die Mikrostrukturentwicklung bei Keimbildung-Wachstums-Prozessen auf der Grundlage von Gleichung (28) wurde von (Riedel und Karato(1996b)) untersucht. Dabei wurde festgestellt, daß die entstehenden Korngrößen- bzw. Clustergrößenverteilungen im Falle der homogenen Keimbildung komplett skalierbar sind. Die mittlere Korngröße der Produktphase ist gegeben mit

 
 \begin{displaymath}
\delta_{Av} = \bigl[I^V / Y\bigr]^{-1/4} \quad ,\end{displaymath} (32)

während die Transformationszeit in der Größenordnung von der Skalierungszeit

 
 \begin{displaymath}
\tau_{Av} = \bigl[I^V Y^3\bigr]^{-1/4}\end{displaymath} (33)

liegt. Jede raum-zeitliche Eigenschaft des Systems läßt sich somit mit Hilfe dieser beiden Skalierungsgrößen angeben. Diese wichtige Eigenschaft wird für das Problem der Extrapolation ausgenutzt: Die unter Laborbedingungen erhaltenen mikrostrukturellen Eigenschaften lassen sich somit zur geologischen Zeitskala extrapolieren. Ebenfalls läßt sich bei Kenntnis der Reaktionsraten IV und Y in Abhängigkeit von Druck und Temperatur die Lage der kinetischen Phasengrenzen beim Zerfall metastabiler Phasen von der Labor- zur geologischen Zeitskala extrapolieren (Abschnitt 4.5).

Im Fall der Keimbildung in festen Phasen ist es in der Regel nicht gerechtfertigt, von einer homogenen Verteilung der Keime in der Ausgangsphase auszugehen. An statt dessen tritt bevorzugt heterogene Keimbildung an Korngrenzflächen auf. Die entsprechend entstehenden Mikrostrukturen weisen für diesen Fall ein vom homogenen Fall abweichendes Skalierungsverhalten auf, z.B. sind Gleichungen (32) und (33) dann durch

\begin{displaymath}
\delta^{2D}_{Av} = \bigl[I^B / Y\bigr]^{-1/3}\end{displaymath} (34)

bzw.

\begin{displaymath}
\tau^{2D}_{Av} = \bigl[I^B Y^2\bigr]^{-1/3}\end{displaymath} (35)

zu ergänzen. Hierbei ist $\delta^{2D}_{Av}$ die Größenordnung der der Korngröße der Produktphase am Perkolationspunkt, und mit $\tau^{2D}_{Av}$ ist die Umwandlungszeit der Stattfindens der Perkolation gegeben.


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Michael Riedel
10/6/1997